Emilys Zauberparty

Fantasie ist eine wirkungsvolle Ressource. Zu Besuch bei Christina Holper, Kinder- und Jugendpsychologin am Sterntalerhof.

Eigentlich wollte Christina modellieren. In ihrem Zimmer hat sie alles dafür hergerichtet: Ein kleines Tablett auf dem grünen Teppich, eine Unterlage, Plastilin in mehreren Farben – für Emily. Die Achtjährige hat vor wenigen Wochen ihren Vater verloren. Sein Tod kam überraschend, seine kleine verwaiste Familie taumelt zwischen Schmerz und Unfassbarkeit. Emilys Mama ist sich nicht sicher, ob ihre Tochter wirklich verstanden hat, dass Papa nicht mehr wiederkommt. Christina will das für sie herausfinden. Sie ist Psychologin am Sterntalerhof, sieht ihre Rolle als Sprachrohr – für betroffene Kinder, Geschwisterkinder und Eltern, als Vermittlerin zwischen einzelnen Familienmitgliedern, als Begleiterin auf hindernisreichen Wegen und als Rüstzeug-Geberin für schwierige Momente in schwierigen Zeiten. Der grüne Teppich mit dem Tablett, für Emily soll er heute Nachmittag eine Basis sein – das Plastilin ein Werkstoff zum Ausdruck innerer Gefühlswelten. Für Jeden, der dir wichtig ist, wird sie zu Emily sagen, modelliere etwas, das zu dieser Person passt. Christina will Emily dabei beobachten. Wer gehört zu den Personen, die Emily wichtig sind? Was modelliert sie – einen Fußball? Einen Hammer? Einen Schmetterling? Und wie symbolträchtig sind die Dinge, die Emily ihren wichtigen Personen zuordnet. Aber auch: In welcher Reihenfolge wird Emily modellieren – oder anders gefragt: Wer ist ihr wichtig? Was sagen die Personen oder Gegenstände zu einander? Wer steht neben wem? Wer fehlt? Und vor allen Dingen: Modelliert Emily auch etwas für sich? Und – wo steht sie selbst?

Als Emily das Zimmer betritt, wird Christina jedoch schnell klar, dass ihre Pläne umsonst waren. Nein, Christina brauche sich nichts zu überlegen, sie hat sich selbst was überlegt, sie möchte viel lieber eine Geburtstagsparty feiern. In ihrer Hand hält sie einen kleinen glitzernden Zauberstab. Christina muss improvisieren, wenn Kinder etwas vorgeben, will sie darauf eingehen. Mit wenigen Handgriffen ist das Plastilin verräumt, die Unterlage weicht einem Zeichenblock und ein paar Buntstiften. Das Tablett auf dem Teppich, es dient fortan als Geburtstagstisch. Emily zögert nicht lange, kauert sich neben Christina und malt ihre Lieblingstorte – eine Erdbeertorte groß und bunt, sorgfältig verziert und garniert mit roten Kirschen und leuchtend gelben, brennenden Kerzen. Bedächtig platziert sie dann die Zeichnung auf dem Tablett, legt die Stifte zur Seite, nimmt ihren kleinen glitzernden Zauberstab und zaubert sich selbst und Christina in ihre Geburtstagsparty. All dies tut sie von sich aus, ohne Anleitung, ohne Impulse von Christina. Die Psychologin spielt mit, auch wenn sie noch nicht genau weiß, wohin das Spiel des kleinen Mädchens führen wird. Behutsam nimmt sie, was Emily ihr vorgibt und bringt ihre Fragen in den Spielablauf mit ein. Wer sitzt denn jetzt an dem Tisch, mit Emily und Christina. Max, ihr Bruder. Ihre Mama. Ihre beste Freundin Tina. Jeder Gast bekommt ein Stück Kuchen, Emily schneidet Stück für Stück von der Torte und verteilt sie an ihre fiktive Geburtstagsrunde. Plötzlich ist auch Papa ein Gast. Christina hakt ein. Welchen Kuchen mochte Papa? Papa mochte Schokokuchen, sie selbst mag eigentlich lieber Erdbeertorte. Und jetzt ist ihre Lieblingstorte ein Schokokuchen, weil – für Papa. Jetzt ist Papa präsent. Und Emily beginnt zu erzählen. Dass er ihr erlaubt hatte, ein Cola zu trinken, an ihrem Geburtstag. Dass er selbst aber lieber Kaffee trank und dass sie an diesem Tag den Kaffee hatte kosten dürfen und dass er furchtbar heiß und bitter geschmeckt hatte. Und was sie sonst gerne mit Papa gemacht hat, die Ausflüge im Urlaub, das Fangen im Garten, die Mensch-ärgere-dich-nicht-Runden im kuscheligen Wohnzimmer, am Nachmittagen im Winter, wenn es draußen kalt war. Sie erzählt es, während Papa am Tisch sitzt, an ihrem fiktiven Geburtstagstisch, neben Mama und Max und Emily und ihrer besten Freundin Tina. Und dann – nach einer kleinen Pause, nimmt Emily wieder ihren Zauberstab, hält einen Moment inne, blickt auf die Zeichnung mit der Torte und hebt den Stab dann in die Höhe. Sie beende jetzt die Zauberei. Weil – es sei ja nur Zauberei und das wisse sie. Weil Papa jetzt ja nicht mehr da ist. Und weil er nimmer wieder kommt.

Halt und Stärke

Christina setzt sich auf. Die Sequenz ist zu Ende, sie hat ihre Antwort. Bevor sie später Rücksprache mit Emilys Mutter halten wird, holt sie sich dafür von dem Mädchen eine Erlaubnis ein. Dann wird sie ihrer Mama sagen, dass sie ein gesundes Kind mit guten Ressourcen hat. Dass Emily genug Kraft hat, um Fantasie und Realität zu unterscheiden. Dass die Fantasie eine dieser Ressourcen ist und dass sie dem Kind unbedingt erhalten bleiben soll.

Diese Erkenntnis, Emilys Mama wird sie Halt geben. Halt, den sie sucht und dringend braucht – in ihrem Familiensystem, das vor wenigen Wochen ins Wanken geraten ist und das sich anfühlt, als könne es jeden Moment vollends aus den Fugen geraten. Für sich selbst bemerkt Christina einmal mehr, wie Kinder einem oft den Weg weisen. Dass es sie bei all ihrer langjährigen Erfahrung immer wieder überrascht, wie bunt, lebhaft und phantasievoll Kinder trauern. Und Emily? Christina will sie bestärken, in ihrem kindlichen Resümee am Ende der Zaubersequenz: Das stimmt, der Papa kommt nimmer wieder. Aber Emily, es ist ein großes Geschenk, dass du ihn für einen Moment – und nur für dich – herbeizaubern kannst!

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