Tage der Wahrheit
Wie man schlechte Nachrichten überbringt. Und warum die Wahrheit entlastet. Die Geschichte von Markus, Ylvie und Paul.
Lesezeit: ca. 5 MinutenAn ihren ersten Anruf bei Markus kann sich Christina noch gut erinnern. Sie weiß, was sie erwartet. Sie zögert nicht lange, wählt die Nummer, atmet durch. Es klingelt. Einmal, zweimal, dann ist er dran. Ein Papa von zwei Kindern, die fünfjährige Ylvie, der achtjährige Paul. Ein Mann Anfang Vierzig, mitten im Leben – und mitten in der schwersten Krise seines Lebens. Um Fassung bemüht, erzählt er was geschehen ist. Dass seine Frau vor zwei Wochen zusammengebrochen ist. Dass sie reanimiert werden musste und dann ausgeflogen wurde, in ein Krankenhaus mit Intensivstation. Dass die Reanimation zwar noch gut verlief, aber die ursprüngliche Krankheit seiner Frau so weit fortgeschritten war, dass sie ins Koma fiel. Und dass sie dann jetzt, vor zwei Tagen – gestorben ist.
Christina kennt die Geschichte bereits. Herr Arnold vom Kriseninterventionsteam, mit dem der Sterntalerhof engmaschig zusammenarbeitet, hat sie ihr erzählt. Er war bei der Reanimation dabei, hat einen kleinen Teddybären hinterlassen für die Kinder – und einen Kontakt für den Papa, für den Fall, dass er Hilfe braucht. Als seine Frau schließlich stirbt, meldet sich Markus – und Herr Arnold informiert Christina, Kinderpsychologin und fachliche Leiterin am Sterntalerhof. Aufmerksam hört sie Markus zu. In kurzen Sätzen versucht er seine Lage zu schildern, macht immer wieder Pausen, kämpft mit den Tränen. Dass er nichts falsch machen wolle. Aber dass er seine Kinder in den zwei Wochen nicht ins Krankenhaus mitnehmen konnte. Und, es klingt wie ein Geständnis, dass er ihnen noch nicht gesagt hat, dass ihre Mama gestorben ist. Christina beruhigt ihn, stellt sich an seine Seite, erklärt ihm, dass es nicht seine Aufgabe als Papa sei, den Kindern diese furchtbare Nachricht zu überbringen – weil gerade kleine Kinder auf den Überbringer schlechter Nachrichten nicht selten mit starken negativen Gefühlen reagieren. Viel besser sei es, die Rolle des Überbringers mit einer außenstehenden Person zu besetzen, einem „Bad Guy“, der danach auch nicht mehr in engem Kontakt zu den Kindern steht. Keine Verwandten, keine Therapeutin, lieber geschultes Fachpersonal. Wie etwa Herr Arnold vom Kriseninterventionsteam. Ihn kennen die Kinder bereits und – er ist nicht zum ersten Mal Überbringer schlechter Nachrichten.
Der Auftritt von Herrn Arnold
Christina arrangiert ein Treffen für den nächsten Tag. Markus holt Ylvie vom Kindergarten ab und Paul von der Volksschule. Tante Sophie kommt vorbei, Markus’ Schwester. Kurz danach treffen auch Christina und Herr Arnold ein, ihre Rollen und ihre Vorgangsweise haben sie vorab gut miteinander abgesprochen. Christina setzt sich zu Markus und den Kindern auf die Couch, Herr Arnold setzt sich neben Tante Sophie. In ruhigen Worten erzählt er zunächst von dem Tag vor zwei Wochen, als Mama abtransportiert wurde und dass die Kinder ihn ja bereits kennen. Dann folgen schmerzliche Wahrheiten, kindgerecht, aber klar formuliert. Der Bub und das Mädchen hören aufmerksam zu. Fragen haben sie keine. Christina fragt an ihrer Stelle nach, will sicher gehen, dass nichts unbeantwortet bleibt. Dann verabschiedet sich Herr Arnold, er will, er soll nicht länger bleiben als nötig. Markus ist da, Tante Sophie ist da, Christina ist da. Leise Gespräche unter Erwachsenen, dazwischen immer wieder bedrückende Stille. Irgendwann steht der Bub auf, läuft in die Küche, holt Mamas Handy, das Papa schon vor Tagen aus dem Krankenhaus mitgebracht hatte. „Sie hat mich nicht angerufen.“ sagt er traurig und legt es wie zum Beweis vor Christina auf den Couchtisch. Dann läuft er in sein Zimmer und verschließt die Tür.
Christina wartet, bis es Abend ist, bevor sie Tante Sophie anruft. Die Sache mit dem Handy lässt ihr keine Ruhe – doch Markus will sie an diesem Tag nicht mehr weiter belasten. Tante Sophie erzählt, dass die Mama der beiden immer wieder wochenlang im Krankenhaus zu Behandlungen war. Niemals hatte sie auch nur einen Tag verabsäumt, ihre Kinder anzurufen. Jeden Tag hatte sie mit Paul telefoniert, nachgefragt, wie es denn in der Schule sei, ihm versichert, dass es ihr schon besser gehe, dass sie bald nach Hause komme und dass sie ihm jetzt eine gute Nacht wünsche. Christina versteht. Noch sind nicht alle Wahrheiten ausgesprochen. Die Wahrheit, dass Mama nach dieser Reanimation nie wieder das Bewusstsein erlangt hat, dass sie 14 Tage im Tiefschlaf war – blieb den Kindern vorenthalten, um sie zu schonen, um sie zu schützen. „Das allerdings löst Fragen aus“, sagt Christina, „Und aus Fragen werden nur allzu schnell Mutmaßungen, Befürchtungen und Ängste.“ Warum ruft mich Mama nicht mehr an? Hat sie mich vergessen? Ist sie vielleicht böse auf mich? Ist es vielleicht, weil ich am Tag zuvor schlimm war und sie schimpfen musste – hat sie mich deswegen nicht mehr hören wollen?
Die letzte Lücke
Für den Tag vor Mamas Beerdigung hat Christina mit Markus eine Verabschiedung organisiert. „Um den Tod zu begreifen, muss man ihn angreifen“, sagt die Psychologin, „Das gilt nicht nur – aber auch und besonders für Kinder.“ Es wird ein stilles und intimes Treffen für Ylvie und Paul, im engsten Familienkreis, in feierlichem Rahmen, bei Mama, am Sarg. Papa und Ylvie haben dafür Mamas liebstes Sommerkleid ausgesucht, Paul zündet eine große, festliche Kerze an. Wichtiger als ein fester Ablauf ist vor allem Zeit – genug Zeit, das nachzuholen, was seit dem Tag der Reanimation für Ylvie und Paul nie möglich gewesen war: Sich von ihrer Mama zu verabschieden. Ihr ein letztes Mal zu sagen, wie lieb sie sie haben. Und ihren Tod vielleicht ein bisschen zu begreifen.
Danach versammelt sich die Familie im Haus von Markus, Ylvie und Paul. Omas, Opas, Onkel, Tanten und Cousinen trudeln ein, es gibt Kaffee und Kuchen. Alle drücken sich, plaudern, tauschen ihre Gefühle aus. Tränen fließen – und doch scheint die bedrückende Stille im Wohnzimmer einer neuen Lebendigkeit zu weichen. Für die Kinder hat Christina eine Trostbox vom Sterntalerhof mitgebracht, daraus bemalen sie jeweils zwei kleine Holzsteine: Einen davon werden sie behalten, einer davon verbleibt am Kranz, der an Mamas Sarg kommt – eine kleine, symbolische Verbindung. Dann nutzt Christina eine Gelegenheit, spricht Markus auf die Lücke an, die es da für Paul noch gibt, möchte ihn dafür gewinnen, auch die letzte Wahrheit noch auszusprechen, die Geschichte für den kleinen Jungen zu vervollständigen. Markus verliert keine Zeit, nimmt seinen Sohn für einen stillen Moment zur Seite, spricht ganz konkret nochmals den Tag der Reanimation an und die 14 Tage, die dann folgten. Er hält die Hand seines Jungen und kauert sich zu ihm. Sie konnte dich nicht mehr anrufen, in diesen 14 Tagen. Sie hätte dich angerufen, wenn sie es gekonnt hätte, ganz bestimmt. Jetzt versteh ich, sagt Paul leise. Dann bricht er in Tränen aus. Es sind nicht seine letzten Tränen – doch es sind Tränen der Erleichterung.