Nikos' Planet

Christina Holper ist Fragenstellerin, Zuhörerin, Vermittlerin. Und Kinderpsychologin am Sterntalerhof.

© Sterntalerhof

Die bösen Bakterien. Sie sind an allem Schuld. An den Schmerzen. An der Traurigkeit von Mama und Papa. An dem langen Schlaf, in dem er war, bevor er hierher kam, an den Sterntalerhof. Nikos sitzt im grünen Zimmer bei Christina Holper. Nach vier schweren Herzoperationen bleiben ihm jetzt nur noch Monate. Er ist elf Jahre alt. Schon gestern hat er mit Christina über die bösen Bakterien gesprochen, und über die vier Operationen. Er hat sich Farben ausgesucht, rot für das Glücklichsein, schwarz für die Traurigkeit, gelb für die Angst. Damit hat er dann eine vorgegebenen Menschenskizze bemalt, seinen eigenen Körper farblich gespiegelt. Die Brust rund um sein Herz bekam ganz viel schwarz für die Traurigkeit. Und all die Narben von den Operationen am Hals, am ganzen Oberkörper, sie bekamen ängstliche, gelbe Markierungen. Präzise Markierungen, exakt in der Skizze platziert. Christina leitet Nikos durch die Stunde und hinterfragt behutsam, was sie sieht. Wo steht das Kind – mit seiner Vorstellung von sich, von seiner Krankheit? Wieviel ist von der Traurigkeit da, wieviel noch vom Glück? Ist ihm bewusst, dass ihm kein Ausweg bleibt? Wovor hat Nikos Angst? Und was braucht er jetzt? Helfen ist zuhören, schwierige Fragen stellen, da sein.

Was denn danach kommt

Nikos spricht gerne mit Christina. Er liebt auch die Pferde am Sterntalerhof und die anderen Tiere. Aber hier bei Christina, in dem grünen Zimmer gegenüber der Küche, gehört die Stunde ihm ganz allein. Er kann Christina von den Dingen erzählen, die er liebt. Von Zügen zum Beispiel. Oder davon, dass er am liebsten Ribiseln mag und Zitronensaft. Er kann wütend werden auf die bösen Bakterien. Und er kann mit ihr über Dinge sprechen, mit denen er Mama und Papa nicht belasten will – über den Tod, oder wie er es nennt: über „schwere Themen“. Über diese schweren Themen will er heute sprechen. Er sitzt auf der Couch, gestützt von Polstern, schwer atmend. Nein, er hat keine Angst vor dem Tod. Wohl aber vor „der Zeit davor“. Vor den Schmerzen. Christina hat sich vorbereitet, hat kurz zuvor von Kunsttherapeutin Susanne erfahren, dass er bei ihr ein Haus gezeichnet hat, sein Haus, in dem er mit Mama und Papa und seinen Geschwisterchen lebt. Hier wird sie einhaken. Christina reicht ihm einen Bogen Papier und ein paar Stifte. Und dann – malt Nikos seine Welt nach dem Tod. Einen großen Kreis, der in akribischer Detailarbeit langsam zu einem Planeten wird. Zu seinem Planeten. Zuerst zeichnet er die Berge. Dann entsteht eine Landschaft, fein skizziert und voller Details. Hunde und Katzen leben darin und Hühner mit kleinen Küken. Dazwischen immer wieder Ribiselstauden und Zitronenbäume. Dann kommen die Züge. Sie fahren durch die Landschaft, an den Bergen vorbei, durch Tunnels. Nikos verliert sich ganz in seiner Arbeit, obwohl sie ihm körperlich schwer fällt. Nichts überlässt er dem Zufall, jedes Detail auf seinem Planeten hat seinen festen Platz. Die Stunde naht ihrem Ende, aber Christina will dran bleiben, kommt da noch mehr, das Kind braucht noch Zeit, sie wird sie sich nehmen. Jetzt zeichnet Nikos das Haus. Genau wie vorher bei Susanne, das Haus, in dem er lebt, mit Mama und Papa und seinen Geschwisterchen. Es steht an der Bahnstrecke, wo die Züge fahren, umgeben von Ribiselstauden und Zitronenbäumen. Und dann, zuallerletzt – zeichnet Nikos ein Stoppschild. Für die bösen Bakterien.

Als Christina das Bild später mit seinen Eltern bespricht, nimmt sie die Funktion eines Sprachrohrs ein. Dann ist sie Vermittlerin und Übersetzerin, für all die Ängste und Wünsche und Bedürfnisse eines Elfjährigen. Aber auch die Eltern selbst will sie stützen. Was brauchen sie? Wie geht es ihnen mit der bitteren Gewissheit, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Was ist es, das Christina ihnen sagen kann – zu Nikos‘ schweren Themen?

Auch hier ist Helfen wieder zuhören, schwierige Fragen stellen, da sein. Um dann die Familie als Ganzes zu stabilisieren und auf das vorzubereiten, was kommt. Denn es kommt – unweigerlich. Noch während diese Geschichte niedergeschrieben wird, tritt Nikos die Reise zu seinem Planeten an. Er wohnt jetzt in dem Haus neben den Zügen, bei den Ribiselstauden und den Zitronenbäumen. Seine Angst vor „der Zeit davor“ war unbegründet. Und was die bösen Bakterien anbelangt – sie haben auf seinem Planeten keinen Zutritt mehr.

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