Auszeiten

Gute Nacht, Sterntalerhof. Gute Nacht, Lisa. Gute Nacht, Karli. Die Geschichte von Elli, ihren Eltern und ihren kleinen Brüdern.

© Sterntalerhof

Es ist kühl heute im Dschungel. Der Herbst ist da, die Sonne steht schon etwas tiefer, mit letzter Kraft erreichen ihre Strahlen die Gräser am Wegesrand, tauchen den Wald in diffuses Licht. Ein magisches Szenario für Ellis Phantasie. Sanft schaukelt das fünfjährige Mädchen auf dem Rücken von Karli, dem gefleckten Shetland-Pony, immer tiefer in den Dschungel hinein. Überall sind wilde Tiere. Zwischen den Büschen schleicht ein Tiger, im plätschernden Bach lauern die Krokodile, in den Bäumen schreit ein Affe, schreckt bunte Papageien auf. Elli beobachtet sie, entdeckt immer neue Tiere, macht Bewegungen, die zu den Tieren passen, ahmt ihre Laute und Geräusche nach. Immer wieder mahnt sie die Erwachsenen, leise zu sein. Und doch ist sie froh, dass sie da sind, Mama und Papa. Und Lisa, die das Pony an der Hand führt. Zu viert sind sie heute ausgeritten, auf ein Abenteuer in den Dschungel. Es sind zwei Stunden, die nur Elli gehören, mit ihrer Mama und ihrem Papa. Ihr ganz kleiner Bruder Alexis schläft in seinem Wagen, er ist noch ein Baby, er wird die wilden Tiere nicht aufschrecken. Und ihr anderer kleiner Bruder Oscar ist am Hof geblieben, er ist in guten Händen.

Die zwei Stunden im Wald, sie gehören nicht nur Elli, sie gehören auch ihren Eltern Hannelore und Daniel. Nur zwei von vielen schönen Stunden in zwei viel zu kurzen Wochen, es ist ihr erstes Mal am Sterntalerhof. Hinter ihnen liegen drei Jahre Ausnahmezustand. Mit der Geburt des kleinen Oscar hat sich ihr Leben für immer verändert. Ihr zweites Kind kommt mit einer seltenen Chromosomenanomalie zur Welt, kann von Beginn seines Lebens kaum selbständig atmen oder schlucken, braucht ein Heer an Maschinen und mehrere Operationen, um zu überleben. Ein halbes Jahr verbringt Hannelore mit Oscar fast durchgehend im Krankenhaus. Es folgen quälende Monate der Angst, zwischen Operationssälen und Therapien, Arztgesprächen und Behörden. Der Alltag, er kommt erst viel später und wird nie mehr so sein wie früher – rund um die Uhr braucht Oscar Pflege. Auf matte 30 Prozent beziffert Hannelore ihren Energiepegel beim Erstgespräch am Sterntalerhof, geben muss sie 130 Prozent, jeden Tag und jede Nacht. Daniel, von Beruf Pilot, reduziert seinen Dienst, um seiner Frau bestmöglich beizustehen, dennoch machen ihm die Schichtdienste schwer zu schaffen. Dazu kommt für beide ein tiefes Gefühl der Schuld – weil vor lauter Ausnahmezustand für Elli kaum Zeit bleibt.

Zeit gewinnen – gemeinsame  Zeit des Füreinander-Daseins, eine Aus-Zeit in schweren Zeiten. Ruhe finden, Kraft tanken, Zuversicht gewinnen: Am Sterntalerhof ist es möglich. | © Sterntalerhof

Zeit gewinnen – gemeinsame Zeit des Füreinander-Daseins, eine Aus-Zeit in schweren Zeiten. Ruhe finden, Kraft tanken, Zuversicht gewinnen: Am Sterntalerhof ist es möglich. | © Sterntalerhof

Böse Männer, Ritter, Räuber

Zeit. Es ist nur Zeit, die sie sich wünschen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute wollen sie nutzen. Gemeinsame Zeit. Eine Aus-Zeit, wie Therapeutin Lisa Graschopf es nennt. Eine Auszeit vom Ausnahmezustand – in einem Umfeld, das für Familien wie diese geschaffen ist, das diese Auszeit bieten kann, weil es die Familie als Ganzes sieht. In den ersten Tagen begegnet Elli diesem Umfeld noch mit schüchterner Zurückhaltung – und mit der angepassten Bravheit, die Lisa von anderen Geschwisterkindern kennt. Das Vertrauen in die neuen Gesichter, es muss erst wachsen. Und mit dem Vertrauen ist das so eine Sache, weiß Lisa: Es kann nur wachsen, wenn man auch sich selbst vertraut. Sie stellt Elli den Pferden vor. Behutsam nähert sich das kleine Mädchen den großen Tieren, wie spricht man mit einem Pferd, wie berührt man es? Und welches der Pferde wird Elli für sich wählen? Lisa beobachtet Elli, zieht Rückschlüsse aus ihrem Verhalten, wertvolle Grundlagen für ihre Arbeit mit dem Kind. Über die Tage will die Fünfjährige alle Pferde ausprobieren, bevor sie schließlich Karli zu ihrem Lieblingspferd beruft. Sie lernt, was Karli gefällt und was nicht. Wie man mit ihm kuscheln kann. Und dass auch ein so großes und starkes Tier wie ein Pferd – Angst haben kann. Mit den Tagen wächst ihr Vertrauen – auch zu Lisa. Dann beginnt sie zu erzählen. Von den langen Monaten, die sie bei der Großmutter verbrachte. Davon, dass Mama und Papa so selten Zeit haben, weil Oscar sie so braucht. Dass sie Oscar aber trotzdem sehr lieb hat. Und dass sie alles tut, um Mama und Papa zu helfen. Und sie erzählt von ihren Träumen. Von bösen Männern, von Räubern, bösen Rittern, die kommen, um die Medizin von der Fee zu stehlen und von dem Frosch, den die Fee dann zaubert, der die Ritter vertreibt.

Die Aus-Zeit, sie beginnt zu wirken. Hannelore tankt neue Kraft in der Kunsttherapie. Daniel findet endlich wieder Schlaf. Oscar genießt das tägliche Reiten, schläft besser, knirscht kaum mehr mit den Zähnen. Spaziergänge, Ausritte, gemeinsames Essen – gemeinsame Zeit. Elli blüht von Tag zu Tag auf. Lisa initiiert frechen Schabernack, treibt das Kind dazu an, etwas auszuhecken, will gegensteuern zum routinierten Funktionieren, das für Geschwisterkinder so typisch ist. Lisa zeigt ihr aber auch die alte Weide am Hof, aus deren Zweigen sie gemeinsam einen Traumfänger basteln. Für die bösen Träume einen Traumfänger. Und für die vielen Sorgen – ein Sorgenbuch, in dem die Sorgen fest aufgehoben sind, in das man aber auch etwas Lautes, Trotziges oder gar Wütendes hineinmalen darf, wenn man denn will. Und das man weiterführen kann, wenn man wieder zuhause ist.

Mama-Zeit – Momente der Verbundenheit nach dem Tanz mit den Luftballonen. | © Sterntalerhof

Mama-Zeit – Momente der Verbundenheit nach dem Tanz mit den Luftballonen. | © Sterntalerhof

Zum Tanz, ihr Ballone!

Als Hannelore, Daniel, Elli, Oscar und Alexis im Frühling an den Sterntalerhof zurückkehren, reist die Vorfreude mit – und ein paar kleine Erfolgsgeschichten. Hannelore berichtet, dass Oscars Physiotherapeutin kaum glauben konnte, welche Fortschritte das kranke Kind auf dem Rücken der Pferde gemacht hat. Sie erzählt davon, wie Elli den ganzen Winter lang jeden Abend am Fenster stand, um dem Sterntalerhof und Lisa und Karli eine gute Nacht zu wünschen. Und sie ist glücklich über das kleine bisschen bewusste Mama-Zeit, das sie für Elli schaffen konnte, einen fixen Nachmittag in der Woche. Und wieder ist es nur Zeit, die sie sich wünschen für ihre Tage am Sterntalerhof, Zeit um füreinander da zu sein.

Füreinander da ist man aber auch, wenn man nur zu zweit ist, sagt Lisa. Etwa, wenn Daniel mit Oscar stille Runden in der Reithalle dreht. Wenn Elli mit dem kleinen Alexis spielt, der jetzt langsam zum Kleinkind wird, mit dem man es lustig haben kann, an dem man sich aber auch mal reiben kann. Wenn Hannelore und Daniel einen Spaziergang unternehmen, nur zu zweit. Oder wenn Therapeutin Claudia ihre Version eines Mama-Nachmittags inszeniert – dazu hat sie Elli und Hannelore in den Musikraum geladen. Sie hat Luftballone vorbereitet und Stifte, mit denen man auf die Luftballone schreibt, was man am anderen mag. Die Luftballone, sie sind ein Geschenk, was auf ihnen steht, eine Überraschung. Versunken malt Elli ein Herz auf den Ballon. Musik erklingt, Mama beginnt zu tanzen, Elli ist sofort dabei. Zunächst tanzen sie beide für sich, dann gemeinsam, minutenlang, Hand in Hand. Immer lauter erklingt die Musik, immer wilder drehen sich beide im Kreis, über ihnen tanzen zappelnd die Luftballone. Leicht verschwitzt und etwas schwindlig bleiben sie stehen, als die Musik verstummt. Hannelore übergibt Elli ihren Luftballon, es ist ihr Geschenk. Danke, steht darauf geschrieben. Danke für deine Hilfe. Für deine tägliche Unterstützung. Für deine Geduld. Und dann steht da noch, dass sie Elli furchtbar lieb hat. Ihre kleine Tochter sieht sie mit großen Augen an. Hannelore presst die Lippen zusammen, die Tränen schießen ihr in die Augen. Elli macht einen Satz und umarmt sie, hält sie minutenlang fest, lässt sie nicht mehr los. Mama-Zeit. Es ist gut, dass du da bist.

Es ist schon fast vorsommerlich warm im Dschungel an diesem Tag vor der Abreise. Die wilden Tiere, sie sind alle da, die Tiger, die Krokodile, die Affen, die Papageien. Aber so richtig will sich Elli nicht auf sie einlassen. Ob Lisa sie denn mal mit Karli besuchen komme, wünscht sie sich vom Rücken des Shetland-Ponys aus mit klagender Stimme. Daniel lächelt. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute wollten sie nutzen. Dass Hannelore gestern sagte, sie habe ihn seit drei Jahren nicht mehr so locker erlebt. Und dass sie plötzlich wieder singt, wie ihn das freut. Mitten im Dschungel bringt Lisa das Pony zum Stehen und hebt Elli auf den Boden. Einen Stein soll sie suchen, einen ganz besonderen Stein, den schönsten, den sie findet, einen magischen Diamanten aus dem Dschungel. Einen Stein für die Erinnerungsbox, die Elli morgen mitnehmen darf, eine kleine, selbst gebastelte Schachtel mit allerlei Schönem vom Sterntalerhof. Da liegt er dann, gut aufgehoben, neben einem Hufeisen, einem Zweig von der Weide und ein paar Haaren von Karli, dem Shetland-Pony. Und erinnert Elli auch zuhause daran, dass das hier alles kein Traum war. Dass Lisa und Karli sich auf ein Wiedersehen freuen. Und dass nach jeder Regenzeit ein Dschungel wartet, voller wilder Tiere – und magischer Steine.

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