Eriks Papagei
Wo der Wald zum Urwald wird und ein Superheld zum König – wohnt die unbeugsame Kraft grenzenloser Fantasie: Unterwegs auf neuen Pfaden mit einem Achtjährigen, einem Pferd und einer Therapeutin vom Sterntalerhof
Lesezeit: ca. 6 MinutenSuperhelden können das. Erik atmet durch. Was, wenn der Papagei heute nicht mehr da ist. Michi sagt, er wird wieder da sein. Schließlich war er auch gestern wieder da, an genau derselben Stelle im Urwald, nicht weit entfernt von der Wiese mit dem Blumeneistee. Erik ist sich sicher, dass er die Stelle wieder finden wird. Superhelden können das. Und schließlich hat er ja Summer, das Pferd auf dem er sitzt – und natürlich Michi, die das Pferd und seinen kleinen Reiter zu Fuß begleitet. Die Morgensonne bricht durch die Bäume und legt ein frühlingshaft funkelndes Licht auf den Urwaldweg. Bis vor kurzem noch konnte man Summers Atem sehen, kleine Dampfwölkchen stieß sie aus, jetzt wird es von Minute zu Minute wärmer, der Frühling setzt sich durch. Eine gute Stunde sind sie schon unterwegs, Erik kennt den Weg bereits, die Kurven, die Felsen, die Stolpersteine. Was sehen wir, was riechen wir, was hören wir, fragt Michi. Den Urwald, sagt Erik. Die Bäume, die Tiere, die Sonne, die sich in den Ästen bricht. Das Rauschen der Blätter. Summers Hufe im Kies. Erik drängt weiter, zur Lichtung mit der Wiese mit dem Blumeneistee. Wie diese Wiese duftet – so wunderbar einzigartig wie sie gestern geduftet hat und vorgestern, als er sie zum ersten Mal durchritten hat. Woran das wohl liegen mag. Am Ende der Wiese schlagen sich Michi, Summer und Erik wieder in die Büsche und wandern noch tiefer in den Urwald hinein. Der Weg macht nun zwei enge Kehren, führt dann etwas bergab und dort, wo das Geäst besonders dicht ist und man nicht so recht weiß, wie es dahinter weitergeht, genau dort, man sieht ihn erst auf den zweiten Blick, dort – ist der Papagei. Und er ist auch heute da.
Es wäre Zeit für eine kleine Pause findet Erik, Summer hat sich eine Wegzehrung verdient. Nur noch ein ganz kleines bisschen muss Michi beim Absteigen helfen, Erik kann es fast schon allein, Superhelden können das, auch wenn sie eine Beinschiene tragen. Dann setzen sich Michi und Erik neben Summer auf einen Baumstamm und rasten. Erik öffnet seinen kleinen Rucksack, zieht für Summer eine Karotte heraus und gönnt sich selbst jenes ganz besondere Schlückchen Coca-Cola, das es nur gibt, wenn man mit Michi in den Urwald reitet, um den Papagei zu besuchen. Michi kramt zwei kleine Würfel mit Symbolen aus ihrer Tasche. Summer, was werden wir würfeln? Das Pferd schnaubt und wiegt seinen großen Kopf. Erik würfelt eine Krone. Michi würfelt ein Schwert. Und schon ist Erik der König und der Urwald ist sein Königreich. Und Michi ist nun die Frau Ritter, die den König beschützen wird. Der Papagei fliegt herbei, setzt sich auf ihre Schulter, flüstert ihr eine geheime Mission ins Ohr. „Ah, ich verstehe…“ sagt Frau Ritter Michi, bedankt sich höflich bei dem Papagei und wendet sich dann mit ernster Miene an den König. „So setzet euch denn wieder auf Euer Pferd, edler König, es gilt die verlorene Prinzessin zu suchen und vor den bösen Drachen zu beschützen.“ Erik nimmt die Mission an. Superhelden können das.
Das Glück dieser Erde
Superhelden können eine ganze Menge, überhaupt am Sterntalerhof – und sie können sich eine Menge wünschen. Sie können sich wünschen, wie sie ihre Zeit hier verbringen möchten, etwa mit Therapeutin Michi in den Urwald zu reiten. Sie können sich ein Pferd herbeiwünschen, das sie mobil macht, das sie begleitet, das sie trägt und in Sicherheit wiegt. Sie können wählen, zwischen Pferden wie Maxi, dem frechen Shetlandponymix oder Hannibal dem mächtigen, dunklen Riesen und sich dann für die gutmütige Summer entscheiden, die Eriks Herz mit ihrem sanften, aufmerksamen Wesen gewann. Sie können lernen, wie man ein Pferd pflegt und striegelt, wie man es für einen Ausritt vorbereitet. Sie können lernen, wie man auf ein Pferd aufsteigt, um dann selbst auf dem Rücken der Pferde zu sitzen, wo nicht nur sprichwörtlich das Glück dieser Erde liegt. Sie können lernen, sich zu trauen und einem Pferd zu vertrauen und machen dabei ganz beiläufig die Erfahrung, dass Pferde Fluchttiere sind und dass selbst ein so großes, so mächtiges und so starkes Tier wie ein Pferd – Angst haben kann. Angst, von der Superhelden wie Erik oder Superheldinnen wie Eriks Mama bislang glaubten, sie seien damit allein. Und Angst, auf die der Sterntalerhof nebst der tiergestützten Therapie noch eine Reihe anderer Antworten bereithält: Von den unterschiedlichsten Therapieformen über Trauerbegleitung und Psychotherapie bis hin zur Seelsorge reicht das Spektrum an Kraftquellen, aus dem große und kleine Superheldinnen und Superhelden hier schöpfen können.
Superhelden können sich am Sterntalerhof aber auch wünschen, was sie gerne essen möchten, überhaupt dann, wenn sie ein bisschen „heiklig“ sind, so wie Erik, wenn ihnen schnell übel wird oder sie von vielen Dingen Kopfweh oder Bauchweh bekommen. Dann gibt’s auch gerne einfach mal Nudeln mit weißer Sauce, so wie Erik sie mag. Und kein Gemüse. Dafür aber ein Fläschchen Coca-Cola als Wegzehrung im Rucksack, zum Apfelsaft dazu, einfach nur weil es so unglaublich gut schmeckt! Denn Superhelden dürfen, ja sollen sogar ein bisschen Schabernack treiben: Therapeutin Michi bemüht sich, Situationen zu schaffen, in denen Erik etwas stibitzt oder seiner Mama einen kleinen Streich spielt und Summer mal einen Huf in die Küchenwerkstatt steckt, obwohl die Küchenwerkstatt für Pferde doch bitte tabu ist, sowas aber auch! Momente der Leichtigkeit, Augenblicke unbeschwerten Kindseins, nach, zwischen oder vor den nächsten Heldentaten.
Eine Kiste für Zuhause
Für Erik ist aber auch Michi eine Superheldin. Schließlich ist sie maßgeblich daran beteiligt, dass Summer so schnell bereit zum Ausreiten ist. Teamwork nennt Michi das und Erik schätzt Tempo, er will keine Zeit verlieren, schon gar nicht heute, am letzten Tag seiner Woche am Sterntalerhof. Einmal noch will er in den Urwald ziehen, mit Summer und Michi – aber heute auch mit seiner Mama: Er will ihr den Urwald zeigen, den Papagei, die verlorene Prinzessin, all das, was er in dieser Woche mit Michi erlebt hat. Jetzt sind es erstmals zwei Pferde, die an Michis Seite über die Felder in Richtung Urwald ziehen, Eriks Mama hat die dunkle Stute Elsa für sich gewählt. Erik führt die kleine Gruppe an. Was, wenn der Papagei heute nicht mehr da ist. Diesmal wird er Michi nicht fragen, denn der Papagei war gestern da und vorgestern, er war jeden Tag da, er wird auch heute da sein. Der Weg durch den Urwald, es ist Eriks Weg. Es sind Eriks Kurven, Eriks Felsen, Eriks Stolpersteine. Sanft spricht er mit Summer, dem Pferd. Mit triumphierendem Unterton weiht er seine Mutter in die Geheimnisse des Urwalds ein, was sehen wir, was hören wir. Michi lächelt. Auch Eriks Mama kann sie spüren, die Magie des Waldes, die Bäume, die Tiere, die Sonne, die sich in den Ästen bricht. Das Rauschen der Blätter.
„Summer bitte steh.“, sagt Erik sanft zu seinem Pferd, als die Gruppe die Lichtung mit der Wiese erreicht. Es duftet, wie es gestern geduftet hat, vielleicht sogar noch ein bisschen stärker, weil heute Eriks Mama mit dabei ist – und wunderbar einzigartig, das muss Mama unumwunden zugeben. Aber wonach es hier duftet, da kommt sie nie drauf. „Weichspüler?“, vermutet sie vorsichtig, „oder Kaugummi?“ – „Blumeneistee!“, lacht Erik, es duftet nach Blumen und nach Eistee, macht zusammen Blumeneistee, so duftet es hier und nur hier duftet es so. Michi zieht eine kleine Kiste aus ihrem Rucksack. Erik hat die Kiste gestern Abend mit Michi gebastelt, eine Holzkiste, er hat sie aufwendig bemalt und mit aufgeklebten Glitzersteinen verziert. Es ist eine Erinnerungskiste, mit Dingen vom Sterntalerhof. Eine Kiste für wenn er wieder zu Hause ist, eine Kiste für schwierige Zeiten. So schwungvoll wie es seine Beinschiene zulässt, steigt Erik vom Pferd. Er geht durch die Wiese, schnuppert an den duftenden Pflanzen, wählt ein besonders schönes Exemplar und pflückt es für seine Kiste. Michi macht den Moment zur langen Pause. Der Geruch dieser Wiese, den er als wunderbaren Duft wahrnimmt – Erik soll ihn tief in sich aufnehmen. Schon bald wird er davon zehren müssen. Schon bald wird er wieder kämpfen müssen. Gegen schlechte Gerüche. Gegen Übelkeit. Die Kiste wird da sein und sie wird nach Blumeneistee duften. Er wird sich an den Wald erinnern, an die wunderbare Lichtung. Er wird in seinen Gedanken dem Weg folgen, zwei enge Kehren weiter und dann etwas bergab dorthin, wo das Geäst besonders dicht ist, wo mitten in den Büschen eine Eisenstange aus dem Boden ragt, an der ein grüner Kanister mit einem roten Punkt befestigt ist – der Papagei. Er wird sich an all die spannenden Geschichten erinnern, die er hier erlebt hat. Er wird darauf vertrauen, dass er zurückkehren kann – an den Sterntalerhof, zu Michi und zu Summer. Und dann wird er kämpfen. Gegen die Übelkeit. Gegen den Tumor in seinem Kopf. Gegen die Tränen seiner Mama. Er wird kämpfen – und er wird siegen. Superhelden können das.