Isabellas Vermächtnis
Im Jahre 1997 führt ein schwer krankes Mädchen zwei Menschen zusammen – und legt damit den Grundstein für den Sterntalerhof.
Lesezeit: ca. 5 Minuten„Da ist immer ein Mysterium zwischen Leben und Tod.“ Regina wählt ihre Worte mit Bedacht, ihre Stimme balanciert zwischen Trost und Erkenntnis. „Da ist immer etwas, das wir nicht begreifen oder gar steuern können.“ Und doch spricht sie aus tiefer Überzeugung, als wäre sie am Ziel einer langen Reise angekommen. Einer Reise, die aus vielen Fragen und wenigen Antworten bestand, aus unermesslichem Leid und galoppierender Freude, aus beißendem Schmerz, vergeblicher Hoffnung und dem großen Glück des kleinen Moments. Einer Reise, die in den 90er Jahren begann, mit einem kleinen Mädchen – und mit einer Begegnung, die Reginas Leben für immer verändern sollte.
Das kleine Mädchen ist damals 11 Jahre alt, heißt Isabella und ist das jüngste Kind in Reginas Reitsportgruppe – ein sportlich talentiertes Kind, eine vielversprechende Kandidatin für Jugendturniere und Meisterschaften. „Es war so unfassbar, wie schnell sie krank wurde.“, erinnert sich Regina. Nur Wochen nachdem Isabella über Sehstörungen und Übelkeit klagt, bricht die Diagnose eines Hirntumors herein, trifft Isabellas Familie wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, überzieht sie mit einem kalten Nebel aus Unsicherheit und Angst. Bald muss das Mädchen ihre Schule und den Reitplatz gegen das Krankenhaus tauschen, zu den immer heftiger werdenden Schmerzattacken gesellen sich böse Gewissheiten wie Unheilbarkeit, Unvermeidbarkeit, Endlichkeit – Gewissheiten, wie sie Peter schon allzu lange kennt. Peter ist Seelsorger an Wiener Kinderkrankenhäusern, er begegnet Isabella am Krankenbett. Vom ersten Tag an gelingt es ihm, einen Draht zu dem Mädchen zu finden, eine Stimmung gegenseitigen Vertrauens aufzubauen. Isabella erzählt Peter von Regina und den Pferden, von den Turnieren und den Meisterschaften, die sie bestritten hat. Sie spricht die bösen Gewissheiten an, will wissen, wie denn das ist mit dem Sterben. Er selbst sei noch nie gestorben, antwortet ihr Peter, aber wie er von anderen Kindern wisse, sei es wohl wie ein Hineinwachsen in eine andere Dimension. Isabella erzählt Peter von einem Traum, in dem sie springt und in ein tiefes Loch fällt – und dass sie sich sehr fürchtet. Ich nehm dich bei der Hand, entgegnet ihr Peter, ich springe mit dir, sag mir, wo landen wir, wo landest du? Auf einer Blumenwiese, lächelt Isabella. Siehst du, sagt Peter, der Tod hat nie das letzte Wort.
Auch Regina will nicht, dass der Tod das letzte Wort behält. Sie will bei Isabella bleiben, mitleben, miterleben, zuhören, aushalten. Regelmäßig besucht sie ihre kleine Reiterin im Krankenhaus. Immer wieder ist sie tief bewegt – von der stoischen Ruhe, von der würdevollen Souveränität, mit der das Mädchen seinem Schicksal begegnet. Und von der Freude, die im einzelnen Moment liegt – wenn man ihn nur erkennen und auskosten kann. Immer kostbarer werden diese gemeinsamen Momente, vielleicht auch, weil sie im Verlaufe der Monate immer seltener werden. Der Tumor wird größer, raubt dem Mädchen die Kraft und das Augenlicht – zehrt an der Zeit, die Isabella noch bleibt, verkürzt sie auf Wochen, dann auf Tage, dann nur noch auf Stunden. Und bevor sie sanft auf ihrer Blumenwiese niedersinkt, schläft Isabella ruhig ein, im Beisein ihrer Mama, ihres Papas, ihrer Schwester – und auch im Beisein von Peter.
Aufbruch ins Ungewisse
„Ich bin sehr für himmlische Arbeitsplatzsicherung“, zwinkert Peter mit einer schelmischen Mischung aus Wärme, Humor und Zuversicht. „Viele Kinder, die von uns gegangen sind, haben versprochen, uns zu unterstützen – vom Himmel aus.“ Für sie alle steht Isabella, als Urgründerin, als Schutzpatronin des Sterntalerhofs. Sie ist es, die den Tiroler Seelsorger Peter Kai und die Voltigiertrainerin Regina Heimhilcher aus Niederösterreich zusammenführt. An ihrem Begräbnis lernen sich die beiden endlich persönlich kennen, nachdem sie zuvor schon so viel voneinander gehört haben – sich im Krankenhaus aber nie begegnet sind. Regina erzählt Peter von ihren Tieren, von den Möglichkeiten tiergestützter Therapieformen. Sie lädt ihn ein, mit einer betroffenen Familie zu ihr zu kommen, zu ihren Pferden – für Peter wird es die erste Begegnung mit therapeutischem Reiten. Die Verbindung zwischen Mensch und Tier, zwischen Kind und Pferd, fasziniert beide nachhaltig. „Es ist ein Getragensein, ein Gestütztwerden.“, sagt Regina „Und es ist immer ein Über-sich-hinauswachsen, in der unmittelbaren Nähe mit einem großen Tier, das auch selbst die Furcht kennt, das vertrauen will und dafür Vertrauen schenkt – ohne jemals zu werten.“
Regina und Peter erkennen ein ungeahntes Potenzial. Regina träumt von einem Bauernhof, als Zufluchtsort für betroffene Kinder und deren Familien, Peter wälzt den Gedanken an ein Hospiz, an ein Kinderhospiz. Die Vorstellungen der beiden ergänzen sich. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach einer geeigneten Liegenschaft – kein einfaches Unterfangen. „Ich bin kein Unternehmer“, erinnert sich Peter, „und wir waren natürlich furchtbar blauäugig. Aber der liebe Gott kann auch aus einem Menschen mit zwei Linken was Gutes zusammenbringen!“ Ohne professionelles Sponsoring-Konzept suchen sie die mediale Öffentlichkeit, finden in die TV-Sendung von Barbara Stöckl und werden kurz darauf von einem Architekten namens Hans Konvicka kontaktiert, der ihnen fortan unterstützend zur Seite steht. Mit seiner Hilfe finden sie in Stegersbach, im Südburgenland, ein Stück Land mit Stallungen und Koppel und mit einer kleinen, aber gemütlichen Hütte – als Rückzugsort für Familien mit schwer- oder gar sterbenskranken Kindern. Der Sterntalerhof war geboren – und er verstand sich vom ersten Moment an als Ort der Zuversicht, als vertrauensvolle Herberge. „Und das ist es doch, was ein Hospiz im eigentlichen Wortsinn ist – eine Herberge.“, sagt Peter.
Wer wagt, gewinnt
Isabella begleitet uns, daran besteht für Peter Kai kein Zweifel. „Sie hat uns immer begleitet. In den guten Momenten, in denen wir spüren durften, dass unser Handeln richtig ist, dass wir Kraft geben und Zuversicht, in Zeiten von Schmerz, Trauer und Angst. Und in den schwierigen Momenten, in denen wir nicht weiterwussten und fast schon aufgegeben hätten. Und davon gab es nicht wenige – bis Harald kam.“ Harald Jankovits übernimmt die organisatorische Leitung des Sterntalerhofs im Jahr 2006. Schritt für Schritt gibt er der starken Vision von Peter und Regina ein wirtschaftlich solides Fundament, sucht Partner und Verbündete, baut ein multiprofessionelles Team auf. Dabei vertraut er auf die Kraft der Zivilgesellschaft, auf ein Netzwerk aus treuen Spendern und partnerschaftlichen Unternehmen, freiwilligen Unterstützern und ehrenamtlichen Helfern. Er verschreibt sich schrittweisem, organischem Wachstum und bleibt der Urvision von Peter Kai und Regina Heimhilcher immer treu – auch als der Sterntalerhof an seinen heutigen Standort in Kitzladen übersiedelt, wo in den Folgejahren ein komfortables Familienhaus, eine beeindruckende Reithalle mit modernen Stallungen, eine überkonfessionelle Kapelle, ein versatiles Verwaltungsgebäude und zuletzt das Sternenhaus entstehen. Gebäude, die nicht nur die Arbeitsweise am Sterntalerhof dokumentieren, sondern auch seine unbedingte Wichtigkeit und seine dringende Notwendigkeit als Institution. Und Gebäude, die allesamt aus der architektonischen Feder von Hans Konvicka stammen, der dem Sterntalerhof bis heute eng verbunden zur Seite steht.
Die Kraft des Moments
„Sterbebegleitung bleibt immer eine Gratwanderung.“, sagt Regina, „Ein Forschungsprojekt, ein Selbsterforschungsprojekt.“ Da ist es wieder, dieses Gefühl einer langen Reise – viele Fragen, wenige Antworten. „Psychosziale Hospizbegleitung ist eine innere Haltung, die im Sein ihren Ausdruck findet, im Beisammensein und im mutigen Miterleben.“ Von Peter habe sie gelernt, bewusst hinzuschauen, den Blick nicht abzuwenden, zu bleiben. „Peter ist immer geblieben – auch in den schlimmsten Situationen. Das ist es, was Sterbebegleitung ausmacht. Da zu sein, im Hier und Jetzt.“ Dieses Jetzt will sie zelebrieren, ganzheitlich und mit vollem Bewusstsein. Für sich selbst und für die Menschen, die sie begleitet, vom Anfang bis zum Ende jeder Reise. Die Freude im Moment erkennen und voll auskosten. Die Hand reichen, Halt schenken, mitspringen in das schwarze Loch – und auf Isabellas Blumenwiese sanft niedersinken. Auf dass der Tod nie das letzte Wort behält.