Regentage

Mehr Zeit kann die Zeit nicht aufhalten. Aber – sie schafft Räume. Die Geschichte von Leyla und Ahmed und ihren Kindern Farid, Yasin, Samina und Muhammed.

© Barbara Wirl

Es ist ein Regentag, als Farid stirbt. Es ist ein Tag, an dem ein junges Leben endet, Farid wird nur ein halbes Jahr alt. Es ist ein Tag, an dem ein schweres Leiden endet. Dabei hatte alles so gut begonnen. Farid, das erste Kind von Leyla und Ahmed, ein Wunschkind. Eine problemlose Schwangerschaft, eine Routinegeburt, keine Komplikationen. Dann, nach zwei Monaten, verändert sich Farids Blick. Er bekommt Anfälle, verkrampft sich, schreit, ringt nach Luft. Die Ärzte sind ratlos – und bleiben es, auch nach etlichen Untersuchungen und Aufenthalten im Krankenhaus. Immer heftiger werden die Anfälle, immer enger werden die zeitlichen Abstände, treiben Leyla und Ahmed in den alltäglichen Ausnahmezustand. Eine Diagnose bleibt aus. Und mit ihr ein Rat, eine Medizin, ein Weg, den man bewusst einschlagen würde oder ein Stein, auf den man irgendwie bauen könnte. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagt jemand im Krankenhaus. Und die Zeit wählt einen Regentag.

Auch als Yasin vier Jahre später zur Welt kommt, ist es bald wieder eine Frage der Zeit. Heftige, epileptische Anfälle und Herzstillstände fordern Leyla aufs Äußerste. Yasin kann nicht selbständig essen, braucht zusätzlichen Sauerstoff und intensive Pflege, Tag und Nacht. Wieder bleibt die Wissenschaft jede Diagnose schuldig, nur in sieben weltweit bekannten Fällen können Spezialisten ein ähnliches Krankheitsbild ausmachen. Und der zweite Fall innerhalb der gleichen Familie – aus medizinischer Sicht ein wahr gewordenes Ding der Unmöglichkeit. Auch als Yasin älter wird, bleibt die Familie auf sich selbst gestellt. Ahmed schiebt Überstunden in der Bäckerei, Leyla ist rund um die Uhr zuhause. Sie kämpft mit Behörden, Ämtern, Gerichten und Krankenkassen. Sie kämpft mit Selbstzweifeln und gegen die allgegenwärtige Angst. Und dennoch gibt sie die Hoffnung nicht auf. Denn immerhin – diesmal scheint sich die Zeit mehr Zeit zu lassen. Sie scheint Yasin mehr Zeit zu schenken. Und sie schenkt ihnen Samina, ein Mädchen, ein gesundes Kind.

Mehr Zeit für mich: Geschwisterkind Samina (Name geändert Anm.) mit Therapeutin Verena und Stute „Gioiella“ | © Barbara Wirl

Mehr Zeit für mich: Geschwisterkind Samina (Name geändert Anm.) mit Therapeutin Verena und Stute „Gioiella“ | © Barbara Wirl

Im Chaos der Gefühle

Sieben lange Jahre vergehen, bis Leyla, Ahmed, Yasin und Samina im Februar 2017 an den Sterntalerhof finden, eine Kinderkrankenschwester sieht die Erschöpfung und stellt für Leyla den Kontakt her. Auch Therapeutin Michaela sieht die Erschöpfung – beim gemeinsamen Kennenlernen am ersten Tag. Sie sieht aber auch die ruhige, besonnene Kraft in Ahmed. Die Fürsorge der neunjährigen Samina gegenüber Yasin, ihrem kranken, älteren Bruder, den sie über alles liebt. Und sie sieht die unermüdliche Ausdauer in Leyla, in ihrem inneren Kampf gegen die Zeit. Bestärkt von den Ärzten, der Zufall könne kein weiteres mal zuschlagen – ist Leyla wieder schwanger, sie wird einen Buben bekommen, er wird gesund sein und er wird Mohammed heißen, nach dem Propheten.

Das System Sterntalerhof, es sieht die ganze Familie – es wirkt auf die ganze Familie. Und es gibt vor allem – Zeit. Zeit, in der Yasin gut betreut ist. Zeit für tiefe Gespräche zwischen Leyla und Trauertherapeutin Claudia, zwischen Ahmed und Seelsorger Franz. Wo steht ihr, was braucht ihr? Wie trauert ihr und wie werdet ihr trauern? Ahmed findet dafür klare Antworten. Leyla balanciert auf einem schmalen Grat, zwischen traditionell geprägten Trauerritualen und dem Bedürfnis nach Reflexion. Die Angst um Yasin. Die Hoffnung in Mohammed. Die Liebe zu Samina. Das Geheimnis von Farid – von dem Samina nichts weiß, weil die Mutter ihr Mädchen beschützen will, vor noch mehr Schmerz und Sorge. Und das quälende Gefühl, dass ihr das ohnehin nicht gelingen wird. Auch Therapeutin Michaela nimmt sich Zeit – für Samina. Als Geschwisterchen eines schwer kranken Bruders, bleibt für ihre Wünsche, Träume und Ängste zuhause wenig Raum. Spielerisch nähert sich Michaela dem Mädchen, ergründet Stimmungen, versucht, Samina zu stärken, für alles was war, was ist und was kommen wird – die sanftmütigen Pferde bilden dabei den therapeutischen Rahmen. Doch es ist die gemeinsame Zeit, die Samina, Yasin, Ahmed und Leyla in dieser Woche am meisten genießen. Das gemeinsame Essen, der Spaziergang mit den Pferden in den nahen Wald. Der Moment, an dem Stute Gioella an Leylas Bäuchlein schnuppert, als wolle sie Mohammed begrüßen. Augenblicke der Schwerelosigkeit. Kraft tanken, nennt Michaela das. "Ihr seid wie leichte Magnete" sagt Leyla beim Abschied, "wir fühlen uns auf eine sanfte Art zu Euch hingezogen, das löst unendlich viel. Und es löst viel aus."

Alles Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde: Paint-Horse Stute „Gioiella“ trägt die ganze Familie und wirkt dabei als Michaelas gut ausgebildete Co-Therapeutin - in einer Woche gemeinsamer Familienzeit | © Barbara Wirl

Alles Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde: Paint-Horse Stute „Gioiella“ trägt die ganze Familie und wirkt dabei als Michaelas gut ausgebildete Co-Therapeutin - in einer Woche gemeinsamer Familienzeit | © Barbara Wirl

Was ich noch sagen wollte

Zwei Jahre später sitzt Samina mit Michaela an einem Tisch im Reiterstüberl des Sterntalerhofs und schreibt einen Brief. Im selben Raum ist Leyla vor wenigen Stunden in Tränen ausgebrochen, unvermittelt, im gemeinsamen Morgenkreis. Und nein, bitte, man solle sich nicht um sie kümmern, es sei nur der Regen, draußen vor dem Fenster. Auch als Yasin starb, kurz nach ihrem ersten Aufenthalt am Sterntalerhof – wählte die Zeit einen Regentag. Er wurde acht Jahre alt.

Jetzt scheint eine wärmende Wintersonne durch die Fenster, auf den Tisch mit dem Brief. Es ist ein Brief an Yasin, er war Michaelas Idee. Die ganze Woche über hatten sie immer wieder über Yasin gesprochen. So vieles, hatte Samina erzählt, hätte sie ihrem Bruder noch sagen wollen. Ein Brief an Yasin, eine gute Idee. Samina nimmt sich alle Zeit der Welt. Sie schreibt, dass sie weiß, dass Yasin jetzt im Paradies ist. Dass sie auch von Farid weiß und hofft, dass beide jetzt beisammen sind. Sie schreibt, dass sie viel an Yasin denkt. Und dass sie ihn unendlich lieb hat. Der Brief, er muss perfekt werden. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht, ein Fehlerchen und Samina beginnt sofort wieder von vorne. Als sie fertig ist, beginnt sie ihn zu verzieren, zeichnet Herzen und Blumen an die Ränder, klebt glitzernde Pickerl aufs Papier. Drei Stunden nimmt sie sich dafür, drei Stunden lang ist Michaela bei ihr, lenkt sie aber nicht, sondern assistiert ihr nur. Es ist Saminas Brief an Yasin. Er enthält alles, was sie ihm noch sagen wollte. In der letzten Nacht der Woche am Sterntalerhof liegt er fertig auf ihrem Nachtkästchen.

Am Tag darauf trifft sich die Familie mit Michaela, Claudia und Franz im Bewegungsraum – alle sind sie beisammen, Ahmed, Leyla, Samina und der kleine Muhammed. Am Boden liegt ein blaues Tuch, zwei Fotos von Farid und Yasin und eine Vase mit blühenden Zweigen – von den Bäumchen, die sie für die beiden Jungen gepflanzt haben. Wo will ich mich erinnern? Woran will ich mich erinnern? Was bewegt mich? Leyla spricht die kalte Angst an, die sie damals, vor vielen Jahren bei Farid zum ersten Mal empfand und die sie bis heute täglich verfolgt. Samina erzählt, wie sie oft in Yasins Armen gelegen hat und dass sie seinen Schal, seine Haube, seinen Bademantel für immer aufbewahren wird. Ahmed bleibt still, versunken und ruhig. Dann tritt die Familie ins Freie, auf die große Wiese vor dem Haus. Michaela hat Luftballons besorgt, es wird Zeit für Samina, Yasin seinen Brief zu schicken. Ein letztes Mal liest sie den Brief laut vor. Vorsichtig befestigt sie ihn dann an der Schnur des Ballons. Doch der Brief, mit all den vielen Worten und den vielen Pickerln, er ist zu schwer, der Ballon sinkt zu Boden. Entschlossen nimmt Samina den Brief aus dem Kuvert, verknotet einen zweiten, dritten und vierten Ballon – endlich ist die Schwerkraft besiegt. Die Ballone mit dem Brief dann aber loszulassen, fällt ihr ungemein schwer. Wortlos kämpft sie mit sich selbst. Ahmed tritt an ihre Seite, legt seine Hand auf ihre Schulter, spricht ihr mir ruhiger Stimme Mut zu. Dicke Tränen kullern über ihre Wange. Sie presst ihre Lippen zusammen, macht die Augen zu – und lässt langsam los. Still blicken alle den Ballonen hinter her, bis es nicht mehr geht, bis sie immer kleiner werden und schließlich als winzige Punkte aus dem Sichtfeld verschwinden.

„Hier zu sein, ist wie Nachhausekommen“ sagt Leyla, als sich die Familie am Abend ein weiteres Mal vom Sterntalerhof verabschiedet. Ahmed sagt, er wisse nicht, wie er danken soll. Samina hält eine kleine, bunt verzierte Kiste in den Händen, die sie mit Michaela gebastelt hat. Darin liegen zwei Herzen aus Bügelperlen, laminierte Fotos der beiden Bäumchen und das Kuvert von Yasins Brief. Die Kiste ist wichtig für Samina. Sie wird sie brauchen – an schwierigen Tagen, an Regentagen. Sie muss wissen, dass sie hierher zurückkehren kann, mit ihrem Papa Ahmed und ihrer Mama Leyla. Denn das Schicksal ihrer Familie, es kennt keine Zufälle oder Dinge der Unmöglichkeit. Und so ist es letztlich wieder die Zeit, die entscheidet, wieviel Zeit sie dem kleinen Muhammed noch gibt.

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