Der Herr der blauen Dose

Wenn man Kind sein erst wieder lernen muss – Einblicke in eine Geschwisterwoche am Sterntalerhof

Doch, da ist jemand. Da sind Schritte. Jemand raschelt mit Papier. Felix kauert am Boden und schielt vorsichtig um die Ecke auf den Gang. Vorne, am Ende des Gangs ist eine Balkontüre, diffus scheint die Nachmittagssonne durch die Jalousien und taucht den Gang in sommerliches Licht. Ein langer Gang mit links und rechts zwei Türen, Felix‘ Augen haben sie fest im Blick – die Büros der Therapeutinnen. Eine Tür steht offen. Von dort, Felix weiß es ganz genau, kommen die Geräusche. Da ist jemand drin. Sein Herz klopft. Seine kleine Hand umklammert seine Waffe, eine runde, blaue Dose mit weißer Creme. Jetzt wieder Schritte, die Tür bewegt sich, eine Frau tritt heraus. Es ist Christina. Vor der Tür bleibt sie stehen, hält inne, liest in den Papieren, die sie in der Hand hält. Felix klopft das Herz bis zum Hals. Wohin wird sie gehen? Was, wenn sie ihn entdeckt? Christina zögert, geht einen Schritt, bleibt erneut stehen, geht dann in die andere Richtung des Gangs davon und verschwindet durch die Balkontür hinaus ins Freie. Mit einem scheppernden Klacken fällt die Tür zurück ins Schloss, einen Moment noch zittern die Jalousien, dann herrscht wieder Stille am Gang. Jetzt oder nie. Felix nimmt all seinen Mut zusammen, löst sich aus seinem Versteck und spurtet den Gang entlang zur ersten Bürotür. Hastig öffnet er die kleine, blaue Dose, legt den Deckel auf den Boden, taucht den Finger in die weiße Paste und schmiert die Türklinke dick und fett mit Creme ein. Schnell zur nächsten Tür, sie liegt schräg gegenüber, fett Creme auf die Klinke. Und die dritte, aus dieser Tür kam Christina. Und jetzt noch die vierte, schnell sein, fett eincremen – geschafft. Wo ist der Deckel der Dose? Egal, jetzt raus hier! Felix sprintet durch den Gang, an seinem Versteck vorbei und durch die Tür ins Freie, den Weg entlang zu den Büschen, wo die Anderen warten. Außer Atem kommt er an, hält die kleine Dose wie einen Pokal in die Höhe, die Kinder jubeln, Michi lacht – die Bürotüren im Hauptgebäude des Sterntalerhofs sind eingecremt, der Streich ist gelungen, das wird ein Spaß!

Schabernack nennt Michi das. Sie ist Therapeutin am Sterntalerhof und sie weiß – Schabernack ist wichtig für Felix. Er ist acht Jahre alt und in seinem Leben ist wenig Platz für Schabernack – weil seine Schwester Selina sehr krank ist. Selina ist krank, solange Felix denken kann. Sie kann nicht gehen, nicht sprechen, nicht essen wie er. Sie braucht rund um die Uhr Pflege und Hilfe, selbst in der Nacht. Und Mama ist allein, über Papa sagt Felix nur, dass er ihn schon lange nicht mehr gesehen hat. Felix sitzt fast immer allein am Frühstückstisch, weil Mama Selina für den Fahrtendienst herrichtet, bevor sie selbst zur Arbeit muss. Dann hilft ihr Felix, den Geschirrspüler einzuräumen, oder unterstützt sie dabei, Selina anzuziehen, bevor er sich selbst für die Schule fertig macht. Immer wieder muss Selina zu Ärzten und ins Krankenhaus, oft unvermittelt, ohne dass man es vorher wissen konnte. Dann wird alles gestrichen was geplant war, ein Besuch im Bad oder Fußball – auch wenn es fest versprochen war. Felix spürt, dass es seiner Mama dann immer sehr leid tut, dass sie aber nicht anders kann. Und Felix tut seine Mama leid, weil sie immer so müde ist und ihm tut Selina leid, weil sie nie wieder gesund werden wird. Drum sagt er nichts, sondern gibt sein Bestes, zu helfen. Und das kann er, er kann helfen. Er weiß genau, was Selina braucht. Er weiß, wann sie hungrig ist, wann sie ihr Hörgerät verliert, wie sie im Rollstuhl am Tisch sitzen möchte. Er macht sie ganz automatisch, die vielen täglichen Routinen, die Selinas Leben bestimmen – und Mamas Leben und Felixs Leben. Raum für Schabernack, lächelt Michi leise, bleibt da kaum – von Ausflügen oder Urlauben ganz zu schweigen. Die Folge: Ein über die Maßen entwickeltes Verantwortungsbewusstsein, eine fast erwachsen anmutende Ernsthaftigkeit, der das natürliche Autonomiestreben eines Achtjährigen immer wieder in die Quere kommt. „Erkrankt ein Kind, erkrankt die ganze Familie“, ergänzt Psychologin Christina Holper, „und Geschwisterkinder verlieren dabei im doppelten Sinn: ihr krankes Geschwisterchen – und ihre Eltern.“

Wenn Leichtigkeit schwer fällt, wirken unterschiedliche Therapieformen, die am Sterntalerhof kindgerecht ineinander greifen. | © Tonality Communications

Wenn Leichtigkeit schwer fällt, wirken unterschiedliche Therapieformen, die am Sterntalerhof kindgerecht ineinander greifen. | © Tonality Communications

Neue Wege gehen

Drum: Eingecremte Türklinken, jetzt und hier am Sterntalerhof – in der Geschwisterwoche. Es ist eine Woche, die nur den Geschwistern schwer kranker Kindern gehört. Und es ist eine Woche, in der Felix neue, unbekannte und vielleicht sogar ein bisschen verbotene Wege gehen soll. Felix ist nicht zum ersten Mal am Sterntalerhof, aber zum ersten Mal ohne Mama und Selina – zum ersten Mal mit neun anderen Kindern, die dasselbe Schicksal teilen wie er. Der erste Tag, für Felix steht er im Zeichen des Abschieds, denn obwohl er sich riesig gefreut hat, auf den Hof, auf Michi und Christina, auf die Tiere – fällt es ihm schwer, seine Mama gehen zu lassen. Ein erstes Einzelgespräch, ein gemeinsames Mittagessen, ein spielerisches Kennenlernen der Kinder prägen den Tag, bevor sich der Abend über den Sterntalerhof legt und die gemeinsame Woche so richtig beginnen kann. An den Vormittagen sind die Kinder dann in zwei Gruppen eingeteilt: Abwechselnd studieren sie mit Tanztherapeutin Claudia ein Theaterstück ein, das sie der jeweils anderen Gruppe am letzten Tag darbieten – die jeweils andere Gruppe verbringt Zeit mit den Pferden. Und auf die Pferde hat sich Felix am meisten gefreut. Auf Estrella, die sanftmütige Stute – auf der er am liebsten sofort ausreiten würde, raus in die Natur, in den Wald, so wie sie es letzten Sommer getan hatten, mit Michi und Mama. Doch daraus wird heute nichts, denn nicht alle der fünf Kinder teilen seine Leidenschaft auf Anhieb – Daniel möchte die Pferde lieber nur striegeln. Also Pferde-Wellness, wie Michi es nennt: striegeln, kuscheln, pflegen – die großen Tiere vom Boden aus erfahren. Sofort lenkt Felix ein – lässt die Quarter Horse Stute stehen und wählt Gioiella, das dienstälteste Pferd am Sterntalerhof. „Sie hat so viele Kinder getragen“, sagt Felix, „es ist Zeit, dass wir ihr etwas Gutes tun.“ Geschwisterkinder, denkt Michi einmal mehr – und verschiebt den Ausritt mit Estrella auf die zwei Einzelstunden mit den Pferden, die jedem Kind in dieser Woche zustehen.

Die Nachmittage erleben alle Kinder gemeinsam. Der Sommer macht das Programm – Baden in der nahe gelegenen Lafnitz, ein Ausflug zu den Luchsen im Wald, ein Picknick oder einfach nur ausgelassenes Duschen mit dem Gartenschlauch – ein entspannter Rahmen für Gemeinsamkeit in einer Schicksals-Gemeinschaft. Kraft tanken, zu sich selbst finden. Vielleicht einmal Schabernack treiben und Türklinken eincremen. Kind sein. Nein, ich bin nicht allein. Alle Kinder hier haben Mamas, die müde sind und Geschwister, die nie wieder gesund werden. Manche sind älter als Felix, manche jünger – aber sie wissen wie es ist, wenn geplante Dinge einfach abgesagt werden und man niemandem deswegen böse sein kann. Sie wissen wie es sich anfühlt, Selina sehr lieb zu haben und traurig zu sein, dass sie krank ist – und sie dennoch manchmal zum Mond zu wünschen. Sie wissen um das schlechte Gewissen das man bekommt, wenn man sich dabei ertappt, Selina gerade zum Mond gewünscht zu haben. Weil Selina ja nichts dafür kann. Und sie wissen um die innere Angst, dieses böse Bauchweh, das man hat, wenn Selina mitten in der Nacht einen Krampf bekommt und Mama zuerst ganz aufgelöst durch die Wohnung läuft, ins Bad, wieder zurück zu Selina, wieder ins Bad und zurück zu Selina und dann, wenn alles vorbei ist, alleine in der Küche steht und weint. Und nicht nur die anderen Kinder wissen das hier am Sterntalerhof, sondern Michi weiß es auch, irgendwie, und Claudia auch und Christina auch. Und man kann es ihnen sagen, auch wenn man dafür vielleicht etwas Zeit braucht. „Das Leben ist wie Malen ohne Radiergummi“ sagt Felix zu Christina am dritten Tag.

Fröhlich sein, zu sich selbst finden, lachen dürfen, Kind sein | © Tonality Communications

Fröhlich sein, zu sich selbst finden, lachen dürfen, Kind sein | © Tonality Communications

Die Sonne bleibt

Am Nachmittag des vierten Tages macht Christina mit den Kindern das, was sie ein Ritual nennt. Aus einem großen Bogen gelbem Papier schneidet sie einen großen Sonnenkreis aus, danach gestaltet jedes Kind zwei Strahlen der gemeinsamen Sonne – für jene Menschen, die einem wichtig sind, die man besonders liebt oder die man verloren hat. Felix wählt seine Mama und Selina, malt kleine Herzen auf seine beiden Strahlen und klebt sie sorgsam an den Sonnenkreis, bevor alle Kinder ihren Handabdruck auf der Sonne hinterlassen. „Kinder brauchen Bilder, damit ihr Verständnis von der Welt klarer wird“, sagt Christina, „auch wenn sich Wolken über die Sonne schieben – die Sonne ist da und sie bleibt da, sie geht auf und sie geht unter, so wie sich das Lachen und die Tränen ablösen.“ Aus dem Sonnenkreis wird ein Mobile, das am Sterntalerhof verbleibt. Christina verwahrt es in ihrem Büro – und wird es aufhängen, wenn Felix wieder an den Sterntalerhof kommt. „Es ist wichtig, Spuren zu hinterlassen, zu denen man zurückkehren kann.“ sagt sie lächelnd. Dann bückt sie sich und hebt einen kleinen, blauen Dosendeckel vom Boden auf – der da irgendwie vor ihre Bürotür gekommen ist.

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